Essayistisches, Persönliches

Kontingenz und Selbstgefühl in Krisenzeiten

Photographed by J. D. Schöll

Neuerdings sitzen wir ja viel zu Hause statt im Büro, in der S-Bahn oder im Auto, begegnen uns über Videokonferenzen oder Telefon, dürfen nur noch zum Sport oder zum Einkaufen oder für einen Arztbesuch hinaus. Nahen physischen Kontakt haben wir nur noch zu den Allernächsten oder wir sind ganz allein. Und seit kurzem setzen wir uns sogar Masken auf, um uns gegenseitig nicht mit unseren Mundflüssigkeiten zu gefährden. So weit ist es also gekommen: Innerhalb kürzester Zeit sind wir in einen anderen Film geraten, in einen, dessen Ausgang wir nicht kennen.

Wir sind unsicherer geworden, haben Angst, ärgern uns, haben Zweifel, sorgen uns um uns und Andere, fürchten den Weltuntergang, hegen andererseits aber auch Hoffnungen auf Besserung, sehen sogar einen möglichen Weg in eine neue, positivere Phase, in die die Weltgesellschaft eintreten könnte.

Um uns zu beruhigen versorgt man uns mit Zahlen, Tabellen und Schaubildern, die Objektivität ausstrahlen, uns aber letztlich zusätzlich verunsichern, weil sie sich nicht selten wechselseitig widersprechen. Und selbst die vielen Experten, von denen wir doch die allerhöchste Sicherheit erwarten, schätzen ein und denselben Sachverhalt oft sehr unterschiedlich ein. Und die Politiker sowieso, die je nach Charakter, Interessen oder Parteizugehörigkeit die Lage anders beschreiben und bewerten.

Fest steht: Unsere Gewissheit, dass das Leben nun mal so ist wie es war, ist uns gehörig weggerutscht. Und wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht wirklich, wie wir vor allem aus dem sogenannten Lockdown heil wieder herauskommen sollen. Die Situation ist im wahrsten Sinne des Wortes kontingent: Sprich, es könnte alles so oder auch anders sein, so oder auch anders ausgehen. Kontingenz (spätlat. contingentia „Möglichkeit, Zufälligkeit“) ist übrigens ein in der luhmannschen Systemtheorie gebräuchlicher Begriff, um die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen zu bezeichnen.

Ja, man kann sich über eben jene Kontingenz empören. Und die Empörungsbereitschaften wachsen bereits. Wir können uns empören über Politiker, die uns nicht bewahrt haben vor der Katastrophe. Wir können und darüber aufregen, dass nicht einmal die Experten mit einer Stimme sprechen. Wir könnten ganz allgemein nach Schuldigen suchen. Waren es nun China, die Fledermaus oder doch nicht ein Geheimbund, der im Labor das Virus produziert hat, um die Welt ins Elend zu stürzen, die uns aus dem bisherigen Leben gerissen haben, oder einfach nur tölpelhafte Menschen, die die Viren selbstvergessen und egoistisch weitergegeben haben: Skifahrer, Wanderarbeiter etc.?

Aber inzwischen frage ich mich, ob das der richtige Ansatz ist. Sind es wirklich allein die äußeren Begebenheiten, die uns diese ohnmächtige Lage beschert haben? Sind es wirklich allein diese unsicheren und ungeklärten Verhältnisse, die uns so verstören? Oder hängt es nicht auch von uns und der Frage ab, wie wir selbst gedenken, mit der Situation umzugehen?

Ich finde, wir könnten uns eingestehen, dass wir alle uns seit dem Ende des zweiten Weltkrieges bislang in relativ komfortablen Zonen bewegt haben. Ich persönlich frage mich ja schon länger: Wie konnten wir nur davon ausgehen, dass alles so bleibt, wie es ist oder schon immer war? Ist es nicht eine illusorische Vorstellung, das Leben mit Stabilität gleichzusetzen. Und ist es nicht normal, hin und wieder vom Leben, ja auch vom gesellschaftlichen Leben – diesmal mittels Pandemie -, gehörig durchgeschüttelt zu werden?

Klar, wir alle streben eine gewisse Stabilität an. Der Mensch ist mitunter strukturkonservativ, keine Frage. Aber vielleicht haben wir die Rechnung diesmal viel zu lange ohne den Wirt gemacht.

Das Leben an sich ist – wie schon festgestellt – alles in allem unberechenbar, und das war es vor Corona auch schon. Wir konnten uns nie ganz sicher sein: Wer eine All-inclusive-Reise antrat nicht, dass er heil wieder nach Hause kommt. Wer sich selbständig machte nicht, dass er damit nicht auch ein kleines Abenteuer startete. Wer auf den Weihnachtsmarkt ging nicht, dass ihn nicht irgendein Radikalinski dort in die Luft sprengte.

Ich frage mich aktuell, woher wir überhaupt genommen haben, das das Ziel des Lebens sein sollte, möglichst wenig verunsichert zu werden – weder von der Gesellschaft, von einzelnen Personen noch von der Natur. Was für ein Aberglaube anzunehmen, man hätte eine natürliches Anrecht auf ein unaufgeregtes, risikoarmes – ja sicheres- Leben fast wie bei einer Pauschalreise.

Und nun zu dem Punkt, der mir dabei besonders wichtig erscheint: Warum eigentlich suchen wir unser Heil, die Antworten auf unsere Fragen, ja die Sicherheit ganz allgemein immer so gern außerhalb von uns? Warum schielen wir so bereitwillig auf Tabellen und Zahlen, rufen nach Experten und Politikern, die uns von der Unsicherheit befreien mögen, und blicken gleichzeitig so wenig auf uns selbst? Können wir uns nicht etwa selbst ein Bild von den Dingen machen, die uns irritieren und verstören, und ein Selbstgefühl entwickeln, das uns hilft, durch Krisen und schwierige Situation zu kommen? Das Selbstgefühl als Instanz in uns, das ja, wie der Name schon sagt, bei uns selbst beheimatet ist und nicht im Außen liegt, also kein fremdes sondern ein eigenes Gefühl ist, das mitunter hilfreich zwischen Verstand und Affekt vermittelt.

Selbstgefühl entwickeln wir in uns, wir haben es – wenn wir uns darum bemühen – unmittelbar parat. Auch das Selbstgefühl kann mir sagen, wie ich mich „richtig“, verantwortlich und selbstbewusst durch diese Krise steuern kann. Tabellen, Experten und Politiker – gut, dass es das alles gibt, aber am Ende muss ich mit all dem leben, ich muss es denken und fühlen, kein anderer tut es für mich.

Ja, wir haben Angst, sind verunsichert, ja die Lage ist für viele von uns prekär. Ja, es geht mir vielleicht schlecht, weil ich nicht weiß, wie es weiter geht. Aber richtig ist auch: Ich bin noch am Leben, und ich habe meine Erfahrungen im Leben gemacht, und ja, ich weiß schon, wie ich mich in dieser Krise befähige, ermutige und mich selbst (was nicht ausschließt, das nicht auch gemeinsam mit Anderen zu tun) trösten kann. Ja, mich gibt es auch noch! Ich bin für mich selbst zuständig, mein eigener Experte und wer, außer mir selbst bitte, sollte am besten herausfinden können, wie ich mich in dieser Krise verhalten soll?!

Und wie verhält es sich mit der Schuld und den Schuldigen? Vielleicht könnte man sich da auf folgendes einigen: Am aktuellen Umgang mit dem Corona Virus sind wir entweder alle schuld oder keiner. Die Dummheit mancher Politiker (Gott sei Dank sind solche in der Minderzahl) ist auch unsere Dummheit. Wir haben sie schließlich gewählt. Die Meinungsvielfalt unter den Experten ist auch unsere Vielfalt, die wir nur allzu gut von uns selbst kennen. Schon im engsten Kreis der Familie ist man ja mal über Kreuz miteinander; in einigermaßen gesunden Familien ist das jedenfalls so. Man sollte all diesen Meinungen und Ansichten Raum lassen, selbst wenn es manchmal weh tut, ihnen zu folgen. Mich persönlich stört dabei gerade der Absolutismus so mancher, auch und gerade der Experten, denen ein prominenter Platz z.B. im Heute journal eingeräumt wird, die dort ihre Ansichten und Einschätzung verbreiten dürfen, und andere, die ein weniger dramatisches Bild von der Lage zeichnen, nicht in dem Maße zu Wort kommen, wie es meines Erachtens wünschenswert wäre.

Aber noch haben wir das Glück, in einer demokratischen Gesellschaft zu leben. In einer Gesellschaft, die darauf angewiesen ist, dass wir selber denken und fühlen, in der Vielfalt und Widersprüchlichkeit einen Stellenwert haben, ja sogar vorausgesetzt werden müssen. Demokratien setzen auf den mündigen Bürger. Und es hat Wert, dass jedem einzelnen Individuum etwas zugetraut und ja, bisweilen auch etwas zugemutet wird. Der Mensch, der, die Antworten in unsicheren Zeiten für seine Lebensführung auch in sich und für sich selbst findet und nicht allein auf das Außen oder den Experten angewiesen ist, um zu wissen wie er sich verhalten soll, ist meines Erachtens ein wesentlicher Eckpfeiler liberaler Demokratien. Es kommt eben auf uns alle und auch auf unser persönliches Selbstgefühl an, wie wir uns durch diese Krise bewegen, was wir glauben wollen und nicht glauben wollen, und wie wir das Ganze anschließend verarbeiten und auswerten werden. Wir werden diesbezüglich noch viel zu tun kriegen, denke ich. Auch nach der Krise. Unsere persönlichen Erfahrungen, unser Selbstgefühl – und beileibe nicht nur die Kennzahlen – werden uns dabei weiter helfen.

Raimund Schöll

Ein Gedanke zu „Kontingenz und Selbstgefühl in Krisenzeiten“

  1. Malgorzata sagt:

    ….und auch jetzt sind wir in Glück gewickelt, denn unsere Gedanken sind frei….
    wir könnten den vergessenen Rand der Gesellschaft ….. zur Mitte machen

    Im Selbstgefühl ist nicht mehr als ich.
    In Selbstverantwortung bleibt nicht mehr als ….ich.

    Sie haben alles Halbgedachte
    zu Ende gedacht und geschrieben.
    Hier leseichmichgerneein…..

    Schönen Abend

    Malgorzata

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